Der ÖPNV braucht interdisziplinäre Kompetenz
Berufsbegleitender Masterstudiengang ÖPNV und Mobilität überzeugt Führungskräfte in Verkehrsunternehmen
KASSEL. „Der ÖPNV ist das Rückgrat der Mobilität, des Klimaschutzes im Verkehr und ein wesentlicher Beitrag zur Verkehrswende“, sagt Dr. Dipl.-Kfm. Till Ackermann, Geschäftsführer Volkswirtschaft und Business Development im Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VdV). Um dieser umfassenden Aufgabe gerecht zu werden, benötige der ÖPNV auf der Leitungsebene interdisziplinäre Kompetenz, und zu dieser befähige der berufsbegleitende Studiengang ÖPNV und Mobilität der Universität Kassel: „Aufgrund der aktuellen rechtlichen und planerischen Grundlagen sowie der Kenntnis des Marktes macht er die Studierenden fit für die Zukunft.“ Der VdV bezeichnet den berufsbegleitenden Studiengang der Uni Kassel zum Master of Science in ÖPNV und Mobilität als „exzellentes Angebot“ an die Verkehrsbranche und ihre Beschäftigten.
„Wir sichern die Zukunft, weil wir den Fortschritt integrieren“
Die Integration intermodaler Ergänzungsangebote - wie kleine, leichte E-Fahrzeuge - und technischer Neuerungen - wie das autonome Fahren - sichern nach Till Ackermanns Worten die Zukunft des ÖPNV, „weil wir den Fortschritt integrieren“. Ebenso werden attraktive on-demand-Angebote helfen, die Mobilität im ländlichen Raum sicherzustellen und auf Märkten wieder aktiv zu sein, aus denen sich der Öffentliche Verkehr aus Kostengründen zurückgezogen hatte. „Durch ein am Menschen orientiertes Verkehrsangebot schaffen wir mehr und mehr individualisierten Öffentlichen Verkehr“, sagt Till Ackermann voraus. Dafür müssten die Politik und die öffentliche Hand allerdings die Rahmenbedingungen schaffen und die Verkehrswende vorantreiben. Die langfristige Finanzierung, die digitale Transformation und der Aufbau der Kapazitäten, um eine größere Zahl an Fahrgästen transportieren zu können, nennt Till Ackermann als die großen Herausforderungen des ÖPNV. Die Verkehrswende ziele darauf, Verkehre zu vermeiden, sie auf ökologisch weniger schädliche Verkehrsträger zu verlagern und schließlich die Verkehre zu verbessern. Till Ackermann sieht den Verkehr vor einer epochalen Transformation durch seine Elektrifizierung, durch das neue Bewusstsein, Mobilität teilen zu können, sowie durch das kommende autonome Fahren. Dort, wo Mobilität zusätzlichen Komfort biete, wie die Abfahrt nahe der eigenen Haustüre, werden die Kunden auch Komfortzuschläge zu zahlen bereit sein.
Prof. Dr. Sommer: Der öffentliche Verkehr gewinnt Marktanteile
„Der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) und der Öffentliche Personenverkehr (ÖPV) gewinnen Marktanteile“, sagt auch Professor Dr. Carsten Sommer. Er leitet das Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme an der Universität Kassel und zählt zu den renommierten Fachleuten auf dem Gebiet des ÖPNV. Sommer ist zum Beispiel wissenschaftlicher Leiter des einzigen Masterstudiengangs ÖPNV und Mobilität in Deutschland. Der berufsbegleitende Studiengang der Uni Kassel und ihrer Management School UNIKIMS qualifiziert Ingenieure, Ökonomen, Juristen, aber auch eine Vielzahl anderer Akademiker mit einem ersten Studienabschluss zum Master of Science.
ÖPNV gewinnt Kunden in Großstädten
Vor der Pandemie, die nicht nur Deutschland in einen Ausnahmezustand versetzt und die Verkehrsströme weltweit verändert habe, habe sich der Öffentliche Personenverkehr im Aufbruch befunden, sagt Carsten Sommer. Der Anteil des öffentlichen Verkehrs am Modal-Split, der Aufteilung der Verkehrsträger an der gesamten Verkehrsleistung in Personen-Kilometer, sei ab 2010 von 14,5 auf 15,4 Prozent gestiegen, während der Anteil des motorisierten Individualverkehrs von 80,8 auf 78,5 Prozent gesunken sei. Der deutschlandweite Mittelwert verdecke allerdings, dass in vielen ländlichen Räumen die Nachfrage nach Öffentlichem Verkehr zurückgegangen sei. Dagegen habe der Schienenverkehr und in einigen Großstädten der Öffentliche Verkehr relativ große Nutzungssteigerungen mit der Folge von Kapazitätsengpässen verzeichnet.
Nur ÖPNV kann CO2-Ausstoß senken
„Der Klimaschutz war schon immer wichtig, aber für die Politik ist er noch wichtiger geworden, nachdem immer mehr Menschen die Zeichen des Klimawandels durch extreme Wetterereignisse zu spüren bekommen. Die Sommer 2018, 2019, 2020 waren nach bisherigen Kriterien ungewöhnlich heiß und trocken, während wir im Februar 2021 in Deutschland eine Temperaturspanne von minus bis plus 20 Grad Celsius erlebt haben“, sagt Carsten Sommer: „Diese Extrema kann keiner mehr leugnen.“ Der Öffentliche Verkehr samt dem ÖPNV sei der einzige Verkehrsträger, der den Ausstoß an Kohlendioxid (CO2) des Verkehrssektors spürbar senken könne, wenn die Menschen weiterhin mobil bleiben wollten. Um den CO2-Ausstoß deutlich zu mindern, müssten vor allem lange Reiseweiten von mehr als 20 Kilometer vom Auto auf den ÖPV verlegt werden. Insbesondere die längeren Fahrten verursachten einen hohen CO2-Ausstoß. Daran änderten auch Elektrofahrzeuge nichts, solange der Strom nicht vollständig klimaneutral erzeugt werde.
Digitalisierung schafft bessere Angebote für die Kunden
Damit noch mehr Nutzer auf den Öffentlichen Verkehr umstiegen, fordert Sommer, müsse der Öffentliche Verkehr immer verlässlicher und transparenter werden im Angebot einer Reise von Tür zu Tür, im Tarifangebot und im Vertrieb. Durch die Corona-Pandemie habe auch im ÖPNV die Digitalisierung einen Schub erfahren, den die Kunden und die Verkehrsunternehmen spüren und nutzen werden. „Der ÖPV und der ÖPNV werden besser“, sagt Carsten Sommer. Es gebe mehr und bessere Informationen über die Zahl der Fahrgäste in Bussen und Bahnen. Damit könnten die Kunden ihre Reisen besser planen, und die Verkehrsbetriebe verfügten über bessere Informationen, wie viele Fahrgäste wann von welcher Quelle zu welchem Ziel führen. Diese Daten wiederum erlaubten es, Fahrpläne und Liniennetze zu optimieren oder Belastungsspitzen zu erkennen und zu lindern. Die Digitalisierung helfe auch, das Angebot von On-Demand-Verkehr (Bedarfsverkehr) und Ride-Pooling (Bündelung von Einzelfahrten) besser zu organisieren und damit Wartezeiten für die Kunden zu senken.
„Wir schlagen die Brücke zwischen den Disziplinen“
„Genau an diesen Stellen, bei den Themen Klimaschutz und Digitalisierung, greift auch unser Studiengang ein. Wir vermitteln in einem neuen Modul die Sensibilität, das Wissen und das Können, wie ich als ÖPNV-Master die richtigen Daten generieren und nutzbringend für meine Kunden und mein Unternehmen verarbeiten kann, damit am Ende der Anteil des ÖPV und des ÖPNV im Modal-Split steigt und der Klimawandel zumindest gebremst werden kann“, berichtet Carsten Sommer über die Anpassung des Studiengangs an stets neue Herausforderungen. Der Bedarf an Akademikern mit einer universitären Spezialisierung zum Generalisten im ÖPNV sei weiterhin unstillbar groß. „Es gibt im ÖPNV den Ingenieur für Tiefbau, Maschinenbau und E-Technik, den Juristen und Betriebswirt, die aus unterschiedlichen Perspektiven die Aufgaben analysieren und lösen. Mit unserem Masterstudiengang schlagen wir seit 2013 die Brücke zwischen den Disziplinen und versetzen die Absolventen in die Lage, den ÖPNV ganzheitlich zu betrachten und die Sichtweisen der Kollegen mit einem anderen beruflichen Hintergrund, deren Argumente und Motive, verstehen zu können“, berichtet Carsten Sommer. „Für viele von ihnen war das der Start einer erfolgreichen Karriere. Das zeigt sowohl den Interessenten am Studiengang, als auch ihren Unternehmen, wie notwendig und passgenau unser universitäres, berufsbegleitendes Masterstudienprogramm für den ÖPNV in Deutschland ist.“
Klaus Reintjes: „Der Studiengang verbindet viele Disziplinen“
Der Studiengang überzeugt auch die Führungskräfte in Verkehrsunternehmen. „Der Studiengang ÖPNV und Mobilität verbindet viele Studiengänge in einem. Ich erhalte Wissen aus den Ingenieurwissenschaften, aus Betriebswirtschaft, Recht und Planung in einem Extrakt, das exakt fokussiert ist auf die Herausforderungen des ÖPNV“, sagt Klaus Reintjes, Betriebsleiter Straßenbahn- und Omnibusverkehr der Kasseler Verkehrsgesellschaft (KVG): „Im Masterstudiengang ÖPNV und Mobilität erhält man ein großes Gesamtwissen und den notwendigen Überblick. Man baut ein Netzwerk mit Menschen auf, die gleiche Interessen haben und die die spezifischen Herausforderungen des ÖPNV schon umfassend erkannt haben, weil sie das starke Interesse haben, sich Wissen für die Expansion einer Zukunftsbranche anzueignen.“
„Mit einem Studium kommt man nicht mehr aus“
Klaus Reintjes studierte zunächst Bauingenieurwesen und in einem weiteren Studium Stadtplanung, denn er erkannte in der beruflichen Praxis: „Mit einem Studium kommt man schon lange nicht mehr aus, insbesondere in einem hochkomplexen System wie dem ÖPNV, der die Schnittstelle unter so vielen anderen Systemen bildet.“ Seit den frühen 2000er Jahren ist Klaus Reintjes - neben seiner leitenden Tätigkeit bei dem großen Nahverkehrsunternehmen – als Lehrbeauftragter am Institut für Verkehrswesen mit der Lehrveranstaltung „Betrieb des ÖPNV“ an der Universität Kassel tätig.
„ÖPNV befindet sich im radikalen Umbruch“
Der berufsbegleitende Masterstudiengang ÖPNV und Mobilität ist für Klaus Reintjes „einzigartig“. Es gebe zwar Lehrstühle für Eisenbahn- oder Straßenverkehr. Aber der ÖPNV stehe nur in Kassel im Zentrum, wo er auch hingehöre, denn er erfahre seit Jahren ein enormes Wachstum, und der Bedarf an qualifizierten Mitarbeitern werde weiter zunehmen. Der ÖPNV befinde sich mitten in einem radikalen und wichtigen Umbruch, denn die Digitalisierung in Betrieb und Technik von Verkehrssystemen werde sich sehr schnell durchsetzen, und dafür brauche es gut ausgebildete Fachleute. „Das Masterstudium ÖPNV und Mobilität an der UNIKIMS, der Managementschool der Universität Kassel, bietet mit dem Modul Betrieb und Technik hierfür eine echte Basis“, sagt Klaus Reintjes. Die Organisation des ÖPNV ist aus Sicht des Betriebsleiters sehr komplex, denn städtische Verkehre stellten wegen ihrer potentiellen Störungen, wie Unfällen oder kurzfristigen Streckensperrungen, zum Beispiel wegen Demonstrationszügen oder Umleitungen der Innenstadt, größere Anforderungen an den Betrieb als beispielsweise der Eisenbahnverkehr. Die Komplexität sei ähnlich wie in der Luftfahrt, aus der mit der Pandemie ein Exodus an Verkehrsplanern eingesetzt habe. Der Master of Science, mit dem der Studiengang abschließe, sei im klassischen Sinne ein ingenieurwissenschaftlicher Abschluss im Bauwesen, wie er als Voraussetzung gelte, um die Betriebsleiterprüfung für Straßenbahnen ablegen zu können. Mit dem Masterabschluss in ÖPNV und Mobilität verbesserten zum Beispiel auch Betriebswirte und Juristen ihre beruflichen Chancen erheblich.
Dr. Arnold: Wertvoller Studiengang für Wachstumsbranche
„Der berufsbegleitende Masterstudiengang ÖPNV und Mobilität ist sehr wertvoll, weil diese Wachstumsbranche, die vor großen Aufgaben steht, gute Bewerber benötigt“, sagt Dr. Martin Arnold von der Münchner Intraplan, einer Beratungsgesellschaft, die wegen ihrer Expertise und ihrer quantitativ fundierten Analysen schon überall in Deutschland von Ministerien, Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen beauftragt worden ist. Martin Arnold sagt, der ÖPNV eröffne für gut ausgebildete Fachleute große Chancen. Die gesellschaftliche Anerkennung des ÖPNV und das Einkommensniveau in der Branche seien in den vergangenen fünfzehn Jahren gestiegen. Einst sei der ÖPNV das „häßliche Entlein“ gewesen, das Transportmittel für Menschen, die kein Auto haben. Das habe sich grundlegend gewandelt. Der ÖPNV gelte heute - zumal in den Zentren und in den politischen Debatten - geradezu als Heilsbringer. Aber auch diese Betrachtung sei zu einseitig. Der ÖPNV koste im Jahr etwa 12 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln und benötige in jedem Corona-Jahr weitere 2,5 Milliarden Euro. Diese Mittel seien von den Steuerzahlern aufgebracht und per se knapp. Das Geld stehe nicht für andere ebenso wichtige Aufgaben zur Verfügung. „Das möchte ich den Studierenden deutlich machen und sie dafür sensibilisieren, wie wichtig es ist, mit den Mitteln der Ökonomie den richtigen Rahmen zu setzen für einen effizienten ÖPNV. Kosten müssen ihren Ausdruck in Preisen finden. Es ist richtig, den Kohlendioxidausstoß zu bepreisen, aber Fahrten zum Null-Tarif im ÖPNV sind ein falscher Ansatz, denn der Fahrgast nimmt eine hochwertige Leistung in Anspruch, und jede Mobilität verzehrt Ressourcen“, erläutert Martin Arnold, warum er die Studierenden zum Perspektivwechsel in Verantwortung befähigen möchte. Auch im Jahr 2050, wenn Energie ausschließlich aus erneuerbaren Quellen fließen solle, werde diese Energie ein knappes Gut sein. Die Informationsfunktion des Preises dürfe nicht verloren gehen.
ÖPNV spart kostbare Fläche im Ballungsraum
Der ÖPNV sei nicht per se gut, sondern er sei vielfach weniger schlecht als der motorisierte Individualverkehr. Denn im Vergleich zum motorisierten Individualverkehr belaste der ÖPNV vor allem in urbanen Räumen die Umwelt nicht so stark mit Emissionen von Schadstoffen und Lärm, und er schone dort insbesondere die Ressourcen Energie und Fläche. Die Konkurrenz um Flächen sei in den attraktiven urbanen Räumen, die Menschen anziehen, intensiv. Der motorisierte Individualverkehr beanspruche viel Lebensraum, der ebenso für Wege und Plätze, Freiflächen in der Gastronomie, Parks sowie für Wohnen und Arbeiten zur Verfügung stehen könnte. Der nicht-motorisierte Verkehr biete grundsätzliche Vorteile, die er insbesondere in der Stadt der kurzen Wege ausspielen könne. Leichte Fahrzeuge mit Elektroantrieb, mit der die Nutzer mittlere Distanzen zurücklegen könnten, seien ein wesentlicher Beitrag zur Entlastung urbaner Räume.
„Viel Erkenntnisgewinn“ dank Masterstudium
Adrien Cochet-Weinandt, Radverkehrsbeauftragter der Stadt Würzburg , hat das berufsbegleitende Masterstudium an der Universität Kassel „viel Erkenntnisgewinn“ gebracht. Seine Erwartungen an das Studium haben sich erfüllt: „Es hat sich bewahrheitet. Ich habe sehr vieles hinzugelernt, und bin in der Breite aufgestellt. Parallel zu meinen Kenntnissen in der Stadtplanung habe ich zahlreiche Themen in der Tiefe kennengelernt. Für mich war der Betrieb des ÖPNV am interessantesten, den ich bisher nur von der Kundenseite her kannte. Nun lernte ich den Betrieb des ÖPNV von der Anbieterseite her kennen, mit der ganzen Technik, den Verkehrsverbünden und der Einnahmeaufteilung. Das ist alles schon sehr komplex. Und der Austausch mit dem Kommilitonen, von denen viele aus dem ÖPNV stammten, sowie mit den echten Experten aus dieser Fachwelt in überschaubarer Gruppengröße, - das war schon ein Privileg.“ Das neu erworbene und in der Masterarbeit vertiefte Wissen konnte Adrien Cochet-Weinandt mit der Berufspraxis verbinden. Parallel zum Studium übernahm er die neue Aufgabe des Radverkehrsbeauftragten seiner Stadt. In der neuen Funktion erkennt er zahlreiche Schnittpunkte mit dem ÖPNV, und kann nun dessen Belange viel besser verstehen. Die Mobilstationen im Innenstadtkonzept von Würzburg, die Kombinationen von Car- und Bikesharing, hat Cochet-Weinandt entwickelt.